Wir sind. Menschen in Calais

„Heute Nacht wäre fast ein Baum auf mein Zelt gefallen“, erzählte mir ein junger Mann und zeigte ein Handyfoto, auf dem sein kleines, in sich zusammengefallenes Zelt zu sehen ist. Ein Meter neben dem Zelt lag ein Baumstamm, der von dem starken Wind in der letzten Nacht entwurzelt worden war. „Ich gehe nicht zurück dahin. Ich will nicht den Tod. Lieber bleibe ich hier und trinke Tee.“, fuhr er mit schiefem Grinsen fort und nippte an dem süßen Chai, den ich ihm ausgeschenkt hatte.

Wir befanden uns in Nordfrankreich, etwas außerhalb von Dünkirchen in einem Naturschutzgebiet, in dem viele Geflüchtete kampierten. Ich schluckte meine Betroffenheit über die nächtliche Lebensgefahr meines Gegenübers herunter, während ich zwei Männer mit Tee und Wasser beglückte und fragte, um das Gespräch in seichtere Fahrwasser zu manövrieren: „Wo hast du denn deutsch gelernt?“ Der junge Mann grinste wieder, zeigt auf sein Handy und sagt: „Auf einer App. In Italien. Ich hatte drei Wochen nichts zu tun.“ Während ich Neuankömmlinge bediente, übersetzte er meine englischen Höflichkeitsfloskeln ins Deutsche und fing an, verschiedene Verben zu konjugieren: „Ich bin, du bist, er ist und sie ist auch und es ist, sie sind, nein davor kommt wir. Wir sind. Das bringe ich immer durcheinander. Und ihr seid.“

Verteilung von Essen bei RCK (Bild: Hanna Morlock)

Eine verbreitete Verwirrung, dachte ich später, nicht zu wissen, an welcher Stelle „wir“ und „sie“ kommen, das „ihr“ ungerechtfertigterweise ans Ende zu stellen. Nur aus diesem Irrtum scheint sich die Situation in Nordfrankreich zu erklären, dass 2016 Großbritannien 35 Millionen Pfund für die Auflösung des Dschungels von Calais, einem 10 000 Menschen fassenden Flüchtlingslagers bezahlt, dass die Orte, an denen von diesem Zeitpunkt an kleinere Ansammlungen von Geflüchteten sichtbar werden im 48-Stunden-Takt von der Grenzpolizei geräumt werden, nicht ohne regelmäßige Polizeigewalt oder dass es uns Freiwilligen möglichst schwer gemacht wird, Essen zu verteilen. Dafür riegelt die Polizei Straßen ab und versucht, uns durch häufige Kontrollen einzuschüchtern. Dabei überschreiten die Polizist*innen immer wieder selbst die Grenzen ihrer Befugnisse, wenn sie den Pass einer Freiwilligen mit einem privaten Handy fotografieren oder uns bei der Essensausgabe filmen.

Wo wir vergessen, dass wir alle Menschen sind

Organisationen wie Refugee Community Kitchen (RCK) leisten Widerstand gegen die Konfusion, die der Priorisierung eines „wir“ über ein „sie“, zugrunde liegt. Diese Verwirrung entsteht, wo wir Westeuropäer die simple Wahrheit vergessen, dass sie, die Flüchtlinge, Menschen sind. Meine Arbeit in Calais und Dünkirchen als Freiwilliger bei RCK ließ mich diese simple Wahrheit neu entdecken. In der Begegnung mit dem Geflüchteten, dem ich Essen ausgebe, gab es oftmals diesen kraftvollen Moment, in dem wir uns ansahen und ineinander erkannten. Ich erkannte ihn als Menschen, und solidarisierte mich mit ihm. Wenn ich hinter der Kategorie „Flüchtling“ einen Menschen als mein Gegenüber und mich als sein Gegenüber erkenne, kann ich nicht anders als mit ihm an der Ungerechtigkeit zu leiden, dass wir beide Menschen, aber so unterschiedlich privilegiert sind. Dieses Privilegien- und Machtungleichgewicht war ein ständiger Beiklang der Interaktion mit den Geflüchteten.

Als es einmal stark regnete und wir völlig durchnässt und vor Kälte zitternd in Calais Essen verteilten, bot ein junger Mann mir seine Jacke an. Ich lehnte dankend ab. Ich würde in einer Stunde wieder in das Lagerhaus zurückkehren, in das sich RCK eingemietet hat. Dort würde ich trockene Klamotten anziehen, einen Tee trinken und im Warmen und Trockenen die Reste des Reis mit Curry essen, das wir an dem Tag ausgaben. Der Mann, der mir seine Jacke angeboten hatte, würde in dem Wetter schlafen, vermutlich notdürftig von einem verschlissenen Zelt geschützt.

„Serving food with dignity“ ist das Motto von RCK und erinnert daran, dass Geflüchtete Menschen sind, denen Würde zukommt. Ich bin weit davon entfernt, meine Erfahrungen in Calais in politische Vorschläge übersetzen zu können. Aber Seehofers Angebot nach dem Brand auf Lesbos, 150 minderjährige Flüchtlinge aufzunehmen, verursachte Übelkeit in mir. Wenn ich unter dem Vorwand, auf eine offensichtlich utopische europäische Lösung warten zu wollen, anbiete, 150 von 12.600 bedürftigen Geflüchteten zu helfen, deren ohnehin menschenunwürdige Unterkunft soeben niederbrannte. Dann habe ich vergessen, dass wir über Menschen reden: Ich bin, du bist, er ist und sie ist auch. Wir sind.

Selbst spenden oder mitarbeiten: https://www.refugeecommunitykitchen.com/

Ein Gedanke zu „Wir sind. Menschen in Calais“

  1. Heftiger Report! Du hast es glaube ich hinbekommen, genau das, was du vermitteln wolltest, zu vermitteln!!
    Ich hab zwar die Beispiel schon persönlich gehört von euch, aber es ist toll, wie du an diesen klarmachst, auf was es ankommt! Sein Gegenüber unvoreingenommen und mit Würde zu behandeln!
    Grüße gehn raus 😉

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